Urteil
Krankenversicherung - Fahrtkosten - stufenweise Wiedereingliederung als Leistung der medizinischen Rehabilitation

Gericht:

SG Dresden 18. Kammer


Aktenzeichen:

S 18 KR 967/19


Urteil vom:

17.06.2020


Grundlage:

Tenor:

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 14.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.2.2019 verurteilt, dem Kläger Fahrtkosten in Höhe von 85,- EUR für die stufenweise Wiedereingliederungsmaßnahme vom 3.12.2018 bis 16.12.2018 zu zahlen.

2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Fahrtkosten in Höhe von 85,- EUR für die Zeit der Wiedereingliederung des Klägers vom 3.12.2018 bis 16.12.2018.

Der Kläger ist als Arbeitnehmer pflichtversichertes Mitglied der beklagten Krankenkasse. Seit dem 6.8.2018 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt und erhielt von der Beklagten Krankengeld. Mit Zustimmung der Beklagten fand vom 3.12.2018 bis 16.12.2018 eine stufenweise Wiedereingliederungsmaßnahme im Betrieb des Arbeitgebers gemäß § 74 SGB V statt. Der Kläger legte hierbei an 10 Tagen die Strecke von seinem Wohnort in C ... zum Arbeitgeber in D ... mit der Länge von 20 km zurück.

Mit dem hier streitbefangenen Bescheid vom 14.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.2.2019 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Fahrtkostenerstattung in Höhe von zunächst 120,- EUR für die Zeit der stufenweisen Wiedereingliederungsmaßnahme ab. Sie führte aus, dass § 60 Abs. 5 SGB V mit Verweis auf § 53 Abs. 1 - 3 SGB IX zwar eine Fahrtkostenerstattung im Zusammenhang mit Leistungen der medizinischen Rehabilitation vorsehe. Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation im Sinne der gesetzlichen Krankenkassen seien aber nur die Maßnahmen nach den §§ 40 und 41 SGB V (ambulante und stationäre Rehabilitationsmaßnahmen sowie medizinische Rehabilitationsmaßnahmen für Mütter und Väter) sowie die Belastungserprobung nach § 42 SGB V. Die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung seien dagegen keine Leistungen der Krankenversicherung zur medizinischen Rehabilitation.

Der Kläger hat fristgerecht am 28.2.2019 Klage erhoben. Er verweist darauf, dass die stufenweise Wiedereingliederung ein wichtiger und gleichberechtigter Bestandteil der medizinischen Rehabilitation sei. Deswegen hätten auch Sozialgerichte bereits entschieden, dass Fahrtkosten zu erstatten seien, wenn die Rentenversicherung der zuständige Träger sei. Für die Krankenkasse könne nichts anderes gelten, denn auch hier gehe es um eine möglichst vollständige Rehabilitation mit dem Ziel der Wiederaufnahme der früheren Tätigkeit.

Nach Hinweis des Gerichts, dass auch nach der vom Kläger vertretenen Rechtsauffassung eine Kostenerstattung nicht nach tatsächlichen gefahrenen Kilometern und der Pauschale des Bundesreisekostengesetzes vorzunehmen sei, sondern Kosten nur in Höhe der Fahrkarten für den ÖPNV erstattungsfähig seien, hat der Kläger seine ursprüngliche Klageforderung reduziert.

Er beantragt nunmehr noch,

die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Fahrtkosten im Rahmen der stufenweisen Wiedereingliederung vom 3.12.2018 bis 16.12.2018 in Höhe von 85,- EUR unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 14.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.2.2019 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte tritt der Klage unter Bezugnahme auf die ergangenen Bescheide entgegen. Sie regt die Zulassung der Berufung an.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Rechtsweg:

LSG Sachsen - L 1 KR 365/20 (anhängig)

Quelle:

Sozialgerichtsbarkeit BRD

Entscheidungsgründe:

Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage hat Erfolg.

Der Bescheid vom 14.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.2.2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, denn der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung der Fahrtkosten für den Weg zu seinem Arbeitgeber während der stufenweisen Wiedereingliederungsmaßnahme in Höhe der Kosten, die für die Nutzung des ÖPNV entstanden wären.

Der Anspruch des Klägers ergibt sich hier aus § 60 Abs. 5 SGB V (in der damals gültigen Fassung) in Verbindung mit § 73 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX. Danach hat die Beklagte Fahrtkosten im Zusammenhang mit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu erstatten.

Diese Voraussetzungen sind nach Auffassung der Kammer erfüllt, weil es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung auch im Krankenversicherungsrecht um eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation handelt, mit der die geltend gemachten Fahrtkosten hier "im Zusammenhang" stehen.

Die stufenweise Wiedereingliederung ist grundsätzlich zunächst ein Vertragsverhältnis eigener Art zwischen dem noch arbeitsunfähigen Versicherten und dem Arbeitgeber, dessen rehabilitatives Ziel darin besteht, langfristig erkrankte Versicherte wieder nachhaltig in das Berufsleben einzugliedern. Nach Vorläufern wie dem so genannten "Hamburger Modell" erfolgte 1988 mit § 74 SGB V und 2001 durch die Einführung in § 28 SGB IX die sozialrechtliche Verankerung. Die Absicherung des Lebensunterhalts erfolgt - je nach zuständigem Träger - durch Krankengeld, Verletztengeld oder Übergangsgeld. Trotz der "betrieblichen Durchführung" ist die stufenweise Wiedereingliederung wegen ihres vorrangig therapeutischen Zwecks damit den Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation zuzuordnen (vgl. zum vorstehenden auch Nebe, SGb 2015, 125ff).

Dies hat auch das Bundessozialgericht bereits entschieden. Im Urteil vom 21.3.2007 - B 11a AL 31/06 R -, juris, Rn. 31 führt das Bundessozialgericht aus:

"Konsequenterweise versteht der Gesetzgeber, wie bereits die gesetzessystematische Einordnung der §§ 74 SGB V, 28 SGB IX jeweils zeigt, die stufenweise Wiedereingliederung - ungeachtet des erwünschten Endeffekts der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit - ihrem Wesen nach als eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation, was auch folgerichtig ist, weil nach der in den Gesetzesmotiven zum GRG (aaO) zum Ausdruck kommenden Konzeption die stufenweise Wiederaufnahme der Beschäftigung nicht Selbstzweck ist, sondern vielmehr in geeigneten Fällen als therapeutisches Instrument zur Überwindung der Folgen einer Erkrankung beitragen soll. Davon abgesehen verliert nach der Rechtsprechung des BSG eine Rehabilitationsmaßnahme den sie prägenden Charakter nicht schon dadurch, dass sie dem Teilnehmer Gelegenheit gibt, sich durch die Verrichtung von Arbeit mit wirtschaftlich verwertbaren Ergebnissen zu befähigen, den Anforderungen der Arbeitswelt zu entsprechen."

Zu Recht unterscheidet das Bundessozialgericht auch nicht zwischen einer stufenweisen Wiedereingliederung, die von der Krankenkasse getragen wird und der stufenweisen Wiedereingliederung, die von anderen Trägern, wie der Rentenversicherung oder Unfallversicherung getragen wird und nennt die Vorschriften des § 74 SGB V und § 28 SGB IX stets zusammen.

Soweit die Beklagte dem entgegenhält, dass es sich nicht um Leistungen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung handele, folgt die Kammer dem nicht. Zwar wird die stufenweise Wiedereingliederung nicht ausdrücklich im Fünften Abschnitt des SGB V unter der Überschrift "Leistungen bei Krankheit" genannt. Dies ändert indessen nichts daran, dass es sich gleichwohl um eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation handelt (vgl. auch Sichert in Becker/Kingreen, § 74 SGB V, Rn 4 und Legde in LPK-SGB V, § 74 Rn. 1: "Die Bedeutung der Vorschrift liegt daher vor allem darin, dass sie die stufenweise Wiedereingliederung als Maßnahme der Rehabilitation im Rahmen der Krankenbehandlung voraussetzt und damit die Grundlage für eine im Zusammenwirken von Versicherten, Arzt, Arbeitgeber und Krankenkasse zu vereinbarende stufenweise Wiedereingliederung schafft.") Die Verortung in § 74 SGB V und mithin in einem Kapitel über die Beziehung zu ärztlichen Leistungserbringern ist lediglich der Tatsache geschuldet, dass neben der grundlegenden Vorschrift in § 28 SGB IX, die auch für die Krankenkassen Gültigkeit hat, ein Bedürfnis dafür bestand, die Voraussetzungen und Handlungsanweisungen an die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte aufzuführen.

Soweit das Bundessozialgericht in seinem späteren Urteil vom 5.2.2009 - B 13 R 27/08 R -, juris maßgeblich auf den Zusammenhang der stufenweisen Wiedereingliederung mit einer vorangegangenen "klassischen" Rehabilitationsmaßnahme abstellt, bedeutet dies nicht, dass die stufenweise Wiedereingliederung für sich alleine keine medizinische Rehabilitation darstellen kann. Das Bundessozialgericht setzt in der zitierten Entscheidung diesen Fokus nur, um die Zuständigkeit der einzelnen Träger der Rehabilitation gegeneinander abzugrenzen. Deswegen bleibt die Rentenversicherung Träger der stufenweisen Wiedereingliederung (d.h. zur Zahlung von Übergangsgeld verpflichtet), wenn diese im unmittelbaren Anschluss an eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt wird. Ausdrücklich weist das BSG aber darauf hin, dass keine zeitgleiche sonstige Rehabilitation durchgeführt werden muss, um die stufenweise Wiedereingliederung als eigenständige Leistung der medizinischen Rehabilitation zu qualifizieren (vgl. auch Nebe/Piller, Erstattung von Fahrtkosten während einer stufenweisen Wiedereingliederung - Anmerkung zu SG Neuruppin, Urteil vom 26.1.2017, S 22 R 127/14 veröffentlicht in www.reha-recht.de; 02.10.2018).

Die grundsätzliche Qualifikation als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation schließt es schließlich aus, die stufenweise Wiedereingliederung den in § 43 SGB V genannten, nur ergänzenden Leistungen zur Rehabilitation zuzuordnen, bei denen eine Fahrtkostenerstattung ausscheidet (vgl. zum Behindertensport BSG, Urteil vom 22.4.2008 - B 1 KR 22/07 R -, juris). Es handelt sich vielmehr um eine Hauptleistung der medizinischen Rehabilitation (a.A. unter Bezugnahme auf die Mitwirkungsverpflichtung des Versicherten aber SG Kassel, Urteil vom 20. Mai 2014 - S 9 R 19/13 -, juris, dagegen überzeugend Nellissen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 44 SGB IX (Stand: 17.06.2019), Rn. 45 1). Der Beklagten ist zwar zuzugeben, dass bei der stufenweisen Wiedereingliederung anders als zB bei anderen medizinischen Rehabilitationsleistungen kein von der Krankenkasse beauftragter Leistungserbringer konkrete Behandlungen am Versicherten durchführt. Dies ist aber Ausdruck des Leitbildwechsels von einem einrichtungszentrierten zu einem personenzentrierten Leistungsrecht in der Rehabilitation (so pointiert Nebe, SGb 2015, 125, 133f, die in der Konsequenz einfordert, dass die bereits vorhandenen Rechtsgrundlagen zur Fahrtkostenerstattung "in diesem Lichte mobilisiert werden müssen").

Deswegen besteht auch im vorliegenden Fall ein Anspruch auf Fahrtkosten in Höhe des Betrages, der bei Benutzung eines regelmäßig verkehrenden öffentlichen Verkehrsmittels der niedrigsten Klasse des zweckmäßigsten öffentlichen Verkehrsmittels zu zahlen ist. Der Kläger wohnt fußläufig zum Bahnhof in C ... und könnte seine Arbeitsstelle mit einem Einzelticket der Preisstufe 2 (4,30 EUR) in zumutbarer Zeit erreichen. Dass er sich aus anderen, persönlichen Gründen für die Benutzung des PKW entschieden hat, steht dem nicht entgegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer lässt die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu. Bislang fehlt eine obergerichtliche Klärung der Rechtsfrage, die sich in einer Vielzahl von Fällen stellt. Dies betrifft vor allem die Fallgestaltung, wenn die Wiedereingliederungsmaßnahme durch die Krankenversicherung getragen wird.

Referenznummer:

R/R8531


Informationsstand: 15.10.2020